Reisen. Mit Ira und Lew.

Während in dieser Woche die Schweiz eine verbindliche weltweite Nachrüstpflicht für Atomkraftwerke fordert, und damit insbesondere die USA und Russland in arge Bedrängnis bringt, in Deutschland kein öffentlicher Auftritt auskommt ohne den Verweis auf 25 Jahre Mauerfall (und noch immer erschreckend viel Trennendes zwischen Ost- und Westdeutschland klischeebeladen auf den Teller kommt, statt fröhlich die vielen Gemeinsamkeiten zu feiern), und außerdem die Grünen sich immer noch an der Pädophiliedebatte ihrer Gründerjahre abarbeiten, sind Ira und Lew mit beinahe diesen Themen schon den zweiten Monat auf Tour zu ihren Leserinnen und Lesern.
Sie sind, die eine aufgewachsen im linksliberalen Bürgertum der Siebziger und Achtziger, der andere in Ostberlin, wesentlich mehr zu Stellvertretern ihrer Generation geworden als ich das beabsichtigt hatte. Beide sind keine Aktivisten, beide sind keine Protagonisten der oben erwähnten Themen, sie sind Kinder – und darum vielleicht umso mehr geprägt, und teils hilflos und wehrlos ausgeliefert. Den Entscheidungen ihrer Eltern, und dem Zeitgeist, der um sie herum seltsame Blüten treibt.

Wie geht jemand damit um, dass er im Alter von neun Jahren von den Eltern zurückgelassen wird in einem Land, das für ihn, ein Kind, auf die allernatürlichste Weise Heimat und Zuhause ist?
Wie lebt er damit, dass sich durch den Weggang der Eltern und die anschließende Adoption in eine linientreue Familie sein größter Lebenstraum verwirklichen lässt, nämlich Leistungssportler zu werden?Und was für eine Beziehung wird er eingehen können zu einer Frau, die ihrerseits keine verlässlichen Beziehungen kennt, weil die Mutter keine Beziehungsfähigkeit mitbringt und der Vater sein Kind zwar versorgen kann, aber es gleichzeitig aufgrund seiner Neigungen vor sich selbst schützen muss, indem er keine Beziehung zulässt?

Während Lew versucht, stabilisierende Struktur in seiner Arbeit zu finden, wählt Ira den Rückzug in überschaubare, vermessbare und tausend Male schon abgeschrittene Räume. Sie bewegt sich, innerlich und äußerlich zwischen ihrer Arbeit in Evis Bäckerei, die sie kennt seit Kindertagen, die ihr eine zweite, oder sogar eine erste Heimat geworden ist, und dem Sterbebett ihrer Vaters im Haus gegenüber. Bei Evi ist auch Fido präsent, der 1976 zusammen mit seinem Großvater bei Evi gestrandet ist, vier Jahre alt, und eigentlich auf der Suche nach seiner Mutter. Beide bleiben und sind füreinander eine neue Familie, und als Ira alt genug ist, stößt sie dazu.

Kann es tragen, ein Leben aufzubauen auf Geschichten und Erinnerungen? Für sich und ihren Sohn John glaubt Ira, die Antwort zu kennen. Dort und nirgendwo anders muss es ihr doch gelingen, die Fäden zusammenzuhalten, fest in ihren geballten Fäusten, dort glaubt sie die Quelle für ihr eigenes Überleben zu wissen, und tut alles dafür, ihre Konstruktion zu schützen. Auch vor Lew.

2005, im Jahr der Erzählung, bringt ein unerwartetes Ereignis die fragile Ordnung zum Einsturz: Lew erfährt erstmals vom Verbleib seiner leiblichen Eltern in Indien, und zugleich vom Tod seiner Mutter. Vor die Wahl gestellt, so weiterzumachen wie bisher, oder sich seiner Biografie, und der Lebensgeschichte seiner Eltern zu stellen, reist er nach Indien, obwohl sein Bruder auch diesmal die Frage stellt, die ihm selbst seit der Öffnung der Grenzen 1989 durch den Kopf geht: Was will ich mit einem, der sich davongemacht hat? Und will ich eine Geschichte hören, für die dieser Mensch dreißig Jahre Zeit gehabt, um sie sich zurechtzulegen?

Im Klappentext des Buches steht, es handle von der Liebe, die Menschen verbindet, und vom Leben, das sie trennt, und wenn ich zurückblicke auf die Momente während er letzten Lesungen, auf die Fragen, die gestellt wurden, und die Gespräche danach, dann denke ich mir, ja, es ist gelungen, eine ganz kleine und stille Geschichte zu erzählen, von Menschen, die nicht im Zentrum der Ereignisse ihrer Zeit gestanden haben, aber an den Spuren zu tragen haben, die diese Ereignisse hinterlassen haben. Und ich freue mich jedes Mal mit ihnen, wenn ich während des Lesens spüren kann, dass sie ihre Kraft, trotz allem, nicht gänzlich verloren haben, und ihren Weg gehen, auch wenn er schmerzhaft ist.