Sonnenuntergang

Wenn einer für immer geht, dann wird er dadurch als erstes ins Leben zurückgeholt.
Und vielleicht ist das noch stärker der Fall, wenn einer geht, der in einer sehr lange zurückliegenden Zeit sehr wichtig gewesen ist, und die ganze wichtige Zeit so lange zurückliegt und Verbindungen gekappt sind, weil das Leben einen hierhin und dorthin gespült hat, einfach so, so dass diese ganze Zeit in eine Erinnerungsblase gepackt ist, und alle Menschen darin Erinnerungen sind, die durch den Tod wieder lebendig gemacht werden, weil sie dadurch geweckt werden.

So ging es mir in der letzten Woche, und ich denke seither an diesen Menschen, und all die Dinge, die wir zusammen erlebt haben, all die großen und all diejenigen, die 25 Jahre überdauert haben, und mit ihm verbunden sind, obwohl mir das gar nicht mehr bewusst war. Dass ich wegen ihm meinen ersten Beruf gewählt habe, beispielsweise.
Oder dass ich bei ihm in der Werkstatt Musik gehört habe, die er gehört hat, weil er mal eine Sekunde lang auf einer Plattenbörse an einem Stand gedacht hatte, Element of Crime würden aus Namensgründen zu den ganz Verruchten gehören, und darum hat er die Platte zuhause gleich auf Kassette überspielt, das machte man damals so, und brachte sie in die Werkstatt, und fortan musste er aushalten, dass ich Long long Summer toll fand, aber ich war ja auch erst 17.
Oder das andere, dass ich einmal ein Arbeitszeugnis brauchte, für eine Bewerbung, und zu ihm in die Werkstatt marschiert bin um mein Anliegen vorzutragen. Und er auf seinem Stuhl am Schreibtisch saß, oder hing, er hing auf eine unvergleichliche Weise auf diesen Drehstühlen, halb Mann, halb (Jeans-)Jacke, eine Hand beinahe auf dem Boden, in der anderen eine Zigarette, die Haare zum Zopf gebunden, nie habe ich ihn anders gesehen. Haare nach hinten gestrichen, Zopf, fertig.
Er also auf diesem Stuhl, mit irgendwelchen Dingen am Fax befasst oder am PC, an dem ich viele viele Runden Mahjong hinter mich gebracht hatte, und er sagte: “Zeugnis? Du? Ja? Für was?” und ich erklärte und dachte für eine Sekunde oder länger tatsächlich, ich würde eines bekommen in dem zu lesen sein würde, was ich gemacht habe in den Jahren bei ihm, und was ich könnte und dass er mir für meinen weiteren Lebensweg… so eins.
Was ich bekam, war eine Charakterstudie auf zwei Seiten, auf seine unvergleichliche Art argumentiert, verschlüsselt und klar zugleich, schnörkellos und verzwirbelt, wunderlich und verschroben, und auf den zweiten Blick zwingend. So schrieb er seine Texte, sein Manuskript über die Kunstszene, seine späteren Texte, die er mir zu lesen gab, oder irgendwo herumliegen ließ, damit ich sie fand.

“Siebdruckerin willst du werden?”, hatte er mich gefragt, 1993 im Sommer, als ich mein Abi gerade in der Tasche hatte und wir das feierten, auf der Wiese vor seiner Werkstatt, und auch bei dem anderen Fest, zu dem ich im grünen Kleid erschien, das erste Mal in meinem Leben in einem freiwilligen Kleid. Er hatte die Sitze aus seinem Bus ausgebaut und aufs Gras gestellt, für Sonne und Sonnenuntergang gesorgt und für Essen, ich glaube, es war indisch und wo er es her hatte, weiß ich nicht mehr, es würde mich aber nicht wundern, wenn er es selbst gekocht hätte extra für diesen Anlass.

“Siebdruckerin?”, hatte er gefragt und ich nickte und dachte, wer wenn nicht er würde das verstehen?
Das war, was er war, unter anderem, vielem anderen, aber er sah mich lange an und sagte dann, dass ich verrückt sei, und er mir nur abraten könne, und dann kamen einhundert philosophische Begründungen und irgendwann – wie in beinahe jedem Gespräch – die Frage nach dem Kapitalismus, das hat ihn geritten eine Weile, ob ich mir vorstellen könne, wie man den bekämpft? Ob der enden kann und wenn ja wie? Und ich war 18 und sagte: der beendet sich selbst und fand mich recht lässig, aber er kam den ganzen Nachmittag wieder zurück auf den Gedanken, und sagte Dinge wie “dann ist es ja doch nur eine Frage der Zeit.”

Ob er gewusst hat, dass er durch seine Ablehnung meinem Berufswunsch gegenüber meinen Ehrgeiz nur angestachelt hatte?
Wahrscheinlich ist es so.
Aber dann stand er auf und ging im Büro auf und ab und zeigte auf seine Maschinen, das T-Shirt-Karussell, die Trockenständer, unsere improvisierte Produktionsstraße für die Deckel, er gestikulierte, als wolle er mir etwas deutlich machen, aber er blieb stumm – erst als er sich wieder zu mir wandte, sagte er, vehementer als sonst, und gänzlich kompromisslos: “Das. Bist. Du. Nicht. Hast du mal in den Spiegel gesehen und eine Siebdruckerin gesehen? Wenn du mich fragst, dann siehst du da eine Schriftstellerin, und nichts anderes solltest du sein. Basta.”

Ich bin dann trotzdem Siebdruckerin geworden.
Und Schriftstellerin auch.
Danke, Walle, danke dir für diese gemeinsame Zeit.